Samstag, 27. Juni 2020

Von Walkenried nach Arenshausen

Die Eichsfeld-Grenze I

Länge: 77 km
Grenzquerungen: 7
Bundesländer: Niedersachsen/Thüringen
Seite: mehr Ost als West
Erkenntnis: Es gab mal einen Ort, an dem Katholiken echt coole Rebellen waren.

Der Harz liegt hinter mir, also wird es jetzt wieder flach? Falsch! Heute durchquere ich das Eichsfeld, und das bedeutet eine Hügelkette nach der anderen.
Hinter Walkenried führt die Grenze durch eine Wald- und Moorlandschaft zur 1. Kutzhütter Fabrik-Hügelkette. (Ganz genau, die Fabrik befindet sich in dem kleinen Fachwerkhäuschen.)

Es folgt die 2. Tettenborner Hügelkette. In Tettenborn sollte es ein kleines Grenzmuseum geben Das hatte aber noch zu. Macht nichts, später kommt noch eins. Hinter der Autobahn erreicht die Straße Thüringen.

Auf der 3. Limlingeroder Hügelkette stehen zahlreiche Holzbänke aus Paletten. Hier konnte ich den Autoverkehr verlassen und ein bisschen allein auf einem Radweg fahren.

Kurz darauf beginnt ein Wald, den ich über ein kleines Tal wieder verlassen habe. Das Tal hat ein Bach gebildet. Diesem kleinen Wasserlauf, dessen Namen ich nicht weiß, bin ich wirklich dankbar. Er hat mir an diesem Tag die einzigen paar Kilometer ohne Steigungen geschenkt.

In Fuhrbach führt der Bach nach Niedersachsen rüber. Hier soll irgendwo eine Friedenseiche stehen, die an die Grenze erinnert. Welcher der Bäume das jetzt war, weiß ich auch nicht. Suchen Sie sich einen aus.
Hier stand mit der Ziegelei Zwinge einer der wenigen grenznahen Betriebe, der weiterbetrieben wurde. Die Arbeiter wurden jeden Morgen von der Grenzpolizei kontrolliert. Eine Mauer umschloss die Ziegelei, über die es anfangs dem einen oder anderen gelang, in den Westen zu klettern.
Die Beschilderung für Radfahrer ist kaum vorhanden. Ich habe mich überwiegend an gelben Autoschildern orientiert.

Hier wendet sich die Grenze (links im Wald) wieder nach Süden. Entlang der Straße geht es direkt nach Duderstadt. Auf dem Weg liegt noch die Rothe Warte, eine bekannte Waldgaststätte. Als die Aliierten 1945 die Zonengrenze bestimmten, sollte ein großer Teil des Duderstädter Waldes an die Ostzone fallen. Bis zur Übergabe erlaubte die Stadt den Bürgern, dort so viel Holz zu fällen, wie sie wollten. Kurze Zeit später erhielten die Sowjets einen sehr ausgedünnten Wald.

Duderstadt besteht aus rotem Fachwerk. Es ist nämlich eines dieser bezaubernden Fachwerkstädtchen im südlichen Niedersachsen, die ich so gern habe. Auch wenn Göttingen, Einbeck und Hann. Münden noch fachwerkiger sind - direkt am Grünen Band werden Sie in ganz Niedersachsen keine schönere Stadt finden. Duderstadt wurde 1989 kurzzeitig
Trabbi Town genannt, die Stadt mit den meisten Trabbis, als nach dem Fall alle durch den nahen Grenzübergang hierher trabten.
Was ich auch sehr sympathisch finde: Duderstadt hat ein Grenzdenkmal, das ich verstehe.

Als nächstes leitet mich die Karte über die 4. Duderstädter Hügelkette. Der Radfahrer strampelt über die grünen Felder nach Thüringen. Das nächste Grenzdenkmal nennt sich OstWestliches Tor und ist wieder sehr abstrakt: Zwei geschälte Bäume auf einem Stahlband.

Im Dorf Wehnde habe ich mich ziemlich verfahren, bis ich auf einen Betonplattenweg nach Teistungen gelangte.

Im Mittelalter hatte Teistungen ein großes Kloster namens Teistungenberg. 1962 wurde es abgerissen, nur einige alte Efeumauern stehen noch.
Heute steht dort ein neuer Gebäudekomplex, der ein Luxushotel beinhaltet (hinten im Bild). Auch ein kleiner Freizeitpark soll dort entstehen.

Falls die Hotelgäste mal Lust auf politische Bildung statt Poolbaden haben, können sie die Straße in einem gläsernen Tunnel überqueren. Hier steht das Grenzlandmuseum Eichsfeld.

Anfangs gab es in ganz Deutschland nur drei Grenzübergänge zur DDR. Nach dem Grundlagenvertrag kamen 1973 vier weitere dazu, die für den sogenannten Kleinen Grenzverkehr bestimmt waren. Einer davon befand sich im Gebäude, das heute das Museum enthält: Die Grenzübergangsstelle Duderstadt-Worbis.
Kleiner Grenzverkehr bedeutet: Die Westdeutschen durften maximal neun Tage in die Landkreise nahe am Grenzübergang reisen, an diesem Übergang also ins Eichsfeld und in den Ostharz. Für neugierige Touristen war das erfreulich, für Menschen mit Verwandten auf der anderen Seite ein Segen. Ein Visum kostete 15 Mark, außerdem musste jeder Reisende 25 DDR-Mark pro Tag umtauschen. Die BRD-Regierung forderte die Bürger auf, diese Reisemöglichkeit oft zu nutzen, damit sich die Deutschen wieder annähern.
Außerdem wurde 1973 eine direkte Telefonleitung zu den westlichen Beamten eingerichtet, um Grenzprobleme zu klären, zum Beispiel bei der Brandbekämpfung.

Das dürfte das einzige Grenzmuseum mit einem Spiegellabyrinth sein. (Begründung: Grenzen spiegeln Systeme.)

Anschließend muss der Besucher eine Passkontrolle passieren. Die Schaufensterpuppe sagt "Ihren Pass bitte.". Diese Kontrollschleuse war für Westdeutsche gebaut worden, die mangels eigenem Auto die Grenze mit einem Linienbus überquerten.
Das waren auch schon die aufregendsten Stationen. Ansonsten beinhaltet das Museum Text mit Bildern, Zeitungsausschnitte und alte Schreibmaschinen im originalen Stenoypistenraum. Im Keller sollte es eine Arrestzelle für geschnappte Flüchtlinge geben, die habe ich aber nicht entdeckt.
Ein paar Texttafeln widmen sich dem katholischen Eichsfeld. Die DDR-Regierung wollte diese zurückgebliebene Region industrialisieren und den Bürgern durch diesen Aufstieg möglichst ihre Religion abgewöhnen. Ersteres gelang sogar einigermaßen, letzteres gar nicht. Auch wenn neue Kalibergwerke, Zementwerke und die größte Baumwollspinnerei Europas (in Leinefelde) neue Arbeitsplätze schufen, hielten die Eichsfelder weiterhin ihre katholischen Prozessionen quer durchs Dorf ab. Anders als im Rest des Landes machen nur wenige Jugendliche die Jugendweihe, in einigen Dörfern sogar null Prozent.

Ferner beinhaltet das Museum ein paar alte Militärfahrzeuge und den Mühlenturm, in dem die Stasi die ganze Anlage kontrollierte. Bis 1970 befand sich in dem Turm tatsächlich eine Mühle. Es ist das einzige zivile Gebäude, das als Teil der DDR-Grenzanlagen umgebaut wurde.
Der Mühlenturm gehört zum Museum und sollte eigentlich auch geöffnet sein, war er aber nicht. Das hohe Betonding mit DDR-Flagge (rechts hinten) sollte die Autofahrer bei der Einfahrt beeindrucken.

Falls jemand versuchte, mit dem Auto auf die harte Tour durch den Grenzübergang zu brechen und einfach alles kaputtzufahren, wurde dieser fette Schlagbaum heruntergelassen. Der brachte selbst einen LKW zum Stehen. Der Knopf zum Absenken befand sich auch im Mühlenturm.
Diese Straße führt zurück nach Duderstadt. Da war ich schon, also kurz vor der Grenze nach links!

Hier führt wieder einmal so ein originaler Kolonnenweg an originalen Grenzzäunen entlang, darauf verläuft ein Grenzwanderweg.
Zuerst überquert er den Bach namens Hahle. Die Brücke haben die Grenztruppen damals errichtet. Über den Fluss errichteten sie einen Gitterzaun, in dem sich Treibgut verfing. Manchmal war der Zaun so verstopft, dass die Hahle die umliegenden Äcker überflutete. (Ja, nicht einmal Wasser durfte die DDR ohne Erlaubnis verlassen.) Dann kurbelten die Grenzsoldaten das Gitter nach oben und eine Flutwelle mit Treibgut schwappte in den Westen. Das sorgte nicht nur für Sachschäden, sondern tötete 1981 sogar einen Menschen.
Ein anderer seltsamer Vorfall ereignete sich 1964 in diesen Hügeln, als DDR-Soldaten Grenzpfähle herauszogen und weiter im Westen wieder reinsteckten. Laut dem Potsdamer Abkommen sollte die Grenze nämlich genau so verlaufen (wie früher schon zwischen dem Königreich Hannover und Preußen). Die Briten sind bei einem Gebietstausch um ein paar Meter davon abgewichen und hielten das in einem Extra-Abkommen mit den Sowjets fest. Als der Bundesgrenzschutz mit Verstärkung zurückkehrte, musste die DDR wortwörtlich zurückstecken.

Solche kleinen Beobachtungsbunker standen ab und zu an der Grenze. Sie sollten offiziell die Grenzsoldaten vor Schüssen aus dem Westen schützen. So etwas ist zwar nie passiert, aber sicher ist sicher.

Die Flüchtlinge konnten nie wissen, ob sie durch den schmalen Spalt beobachtet wurden.

Dann trennt sich nun der lokale Grenzwanderweg vom Iron Curtain Trail und führt auf der Westseite im Bogen zurück.
Der interessanteste Ort auf der Westseite dürfte der Pferdeberg sein. Der heißt so, weil König Heinrich I. im Jahre 929 möglicherweise ein Gestüt unterhielt, oder auch nicht. Später bauten die Duderstädter dort die Perde-Warde (Pferdewarthe), einen steinernen Beobachtungsturm als Teil ihres Verteidigungssystems. Im Kalten Krieg war der längst zerfallen und es entstand ein neuer Beobachtungsturm aus Holz. Der diente allerdings nicht der Verteidigung, sondern der politischen Bildung und gewissermaßen auch dem Schutz der Bürger vor ihrem eigenen Leichtsinn. Wenn sie die Mauer aus der Ferne gut sehen können, gehen sie hoffentlich nicht zu dicht dran - mit dieser Hoffnung baute der Bundesgrenzschutz solche hölzernen Hochsitze mitsamt Informationstafeln. Damit übernahmen der Grenzschutz touristische Aufgaben.

Ich hatte so viel Zeit im Museum und auf dem Grenzweg verbracht, dass es langsam eng wurde. Eigentlich wollte ich nicht auch noch zum Pferdebergturm, aber irgendwie hatte ich mich in diesem Wald ein bisschen verirrt. Als sich der Turm plötzlich vor mir erhob, bin ich dann aber doch hinaufgestiegen.
Okay, neuer Versuch. Ah, der Immingeröder Kreuzweg! Jetzt wusste ich wieder, wo ich bin - ungefähr jedenfalls. Und ich wusste, wo es langging - steil nach unten, wieder runter von den Duderstädter Hügeln.
Dieses Kreuz stiftete 1984 die Jungfrau (woher auch immer Informationstafel das so genau weiß) Christine Borchardt aus Dankbarkeit, als sie eine schwere Krankheit heil überstand. Sehr dankbar waren im Jahre 1961 auch 13 Menschen, als sie dieses Kreuz erreichten.

Unten im Tal habe ich Böseckendorf durchquert. Dieses Dorf wurde 1961 bekannt für die wohl größten Massenfluchten über die Grenze: Hier ist fast ein ganzes Dorf abgehauen. Zweimal rannten jeweils 13 Menschen (je ein Viertel des Dorfes) trotz Tretminen zwei Kilometer in den Westen. Beim zweiten Mal war zwar furchtbares Winterwetter und der Schlitten mit ihren Habseligkeiten kippte dreimal um. Aber die Zeit drängte, denn ein lokaler Grenzsoldat wollte mitflüchten und helfen, und der sollte bald ausgewechselt werden. In der BRD gründeten sie Neu-Böseckendorf.

Der Rest der Strecke bietet kaum noch historische Relikte, sondern nur noch Steigungen, Steigungen und Steigungen. Besonders steil ist die 5. ätzend hohe Hügelkette bei Etzenborn und Neuendorf.

Uff! Dann noch die 6. Weißenborner Hügelkette und die 7. finale Hügelkette ins Leinetal. Bei Mengelrode bietet sich ein Ausflug ins schöne Heiligenstadt an.
Eigentlich sollte es hier Radwege geben. Nun ja. Grundsätzlich ist das ein Radweg, aber Autos sind erlaubt... alles klar. Diese merkwürdigen "Radwege" waren teilweise zweispurig mit Leitlinie und so breit wie eine gewöhnliche Landstraße.

An der Autobahn hatte ich dann das Schlimmste hinter mir, es ging vor allem bergab.
Dabei entdeckte ich doch noch ein Zeugnis der Vergangenheit: Ein Bauer benutzt den alten Streckmetallzaun, um seine Weide zu begrenzen. Laut dem Museumswärter in Sorge kam das ziemlich häufig vor, dass sich alle am Zaun bedienten, denn sie wussten, dass dieses Material für die Ewigkeit gemacht war. Zwischen "Weg damit, verdammte DDR, ich will das nie mehr sehen!" und "Wir müssen das unbedingt als Zeugnis für unsere Nachkommen erhalten." gab es auch diese ganz pragmatische, eigennützige Herangehensweise.

Ein weiteres Kuriosum ist diese Riesenbank.

Noch ein bisschen bergauf, bald ist es geschafft. Im Hintergrund erhebt sich die restaurierte Burg Rusteberg. Die Burgen hier sehen irgendwie alle nur wie gelbe Hotels aus.

In Marth führt eine Pflasterstraße steil nach unten. So bin ich rasend schnell wie ein sehr holpriger Falke ins Leinetal hinuntergesaust.

Unten bin ich auf den guten alten Leineradweg gestoßen, der an der Hauptstraße nach Arenshausen führt. Die Leine ist der einzige größere Fluss, den ich kenne, der die Grenze einfach nur kreuzt und nicht selbst zur Grenze wird. Auch der Radweg ist nur ganz kurz mit dem Leineradweg identisch. (Da gibt es dann auf einmal wieder Fahrradschilder.) An der Leine empfiehlt sich ein Abstecher zum Museum Friedland, wo seit 1945 ein Auffanglager für Flüchtlinge steht. Es ist vielleicht kein herkömmliches Grenzlandmuseum wie die anderen, aber es hat auch mit der Grenze zu tun.

Fährt man in Richtung Friedland, so überquert man die Grenze an dieser Stelle. Direkt an der Grenzlinie befindet sich neben dem üblichen braunen Schild auch das Rittergut Besenhausen und ein kleiner Wanderweg mit Hinweistafeln. Da erzählen zum Beispiel Anwohner, wie sie auf der Rückfahrt vom Kleinen Grenzverkehr stundenlang von der Stasi verhört wurden, weil die gesehen hatten, wie ein DDR-Bürger sie kurz nach Westgeld gefragt hatte.

Montag, 22. Juni 2020

Von Stapelburg nach Walkenried

Die Harzgrenze

Länge: 53 km (plus 10 km vom Bahnhof Bad Harzburg)
Grenzquerungen: 4
Bundesländer: Niedersachsen/Sachsen-Anhalt/Thüringen
Seite: viel mehr Ost als West
Erkenntnis: Im Gebirge ist alles etwas anders.

So, nach all dem Gewander will ich aber auch noch radfahren. Nach dem Weser-Harz-Heide-Radweg war es schon das zweite Mal, dass ich mir vorgenommen hatte, an einem Tag mitten durch den Harz zu radeln - mit einem Tourenrad und Gepäck durchaus eine Herausforderung. Und wie beim WHH-Radweg wurde es gegen Ende knapp.
Zunächst einmal bin ich vom Bahnhof Bad Harzburg zur Betonbrücke von Stapelburg zurückgekehrt. Dann musste ich eine birkenbewachsenen Hügelkette überwinden. Damit beginnt der Iron Curtain Trail seinen großen Schlenker nach Osten, auf dem er die unwegsame Hälfte der Harzgrenze weiträumig umfährt.

Hinter den Birkenhügeln steht die prächtige Kurstadt Ilsenburg. Die besteht aus einem Springbrunnen, einer Burg (der Ilsenburg halt), einer Baustelle, Geschäften und der wilden Ilse.

Die Ilse bildet ein Tal, das Radfahrern endlich die Möglichkeit bietet, in den Harz einzutauchen. Durch den Wald schlängelt sich ein Kiesweg ganz sanft bergauf. Auf dem Weg liegt die Prinzess-Quelle, eine der Ilsequellen. Deren Wasser wurde früher über ein Rohr direkt ins Tal geleitet und als Tafelwasser abgefüllt.
Mensch, dachte ich, wer hätte gedacht, dass der Weg in den Harz hinauf so angenehm ist? Ich musste nur ab und zu Fußgänger aus dem Weg klingeln.

An der nächsten Kreuzung sollte ich links abbiegen. Da verschwanden die Fußgänger und das Terrain wurde plötzlich rauer. Der Kiesweg schraubt sich staubig steil bergauf. Plötzlich kam mir ein Bus entgegen. Ich musste ausweichen und fuhr den nächsten halben Kilometer in einer monströsen Staubwolke. Ja, auf diesem abenteuerlichen Weg fahren Linienbusse, und zwar gar nicht so selten. Die einsamen Waldhäuschen sind hier besser angebunden als viele deutsche Dörfer.

Einen Vorteil hatten die Bushaltestellen allerdings: Sie sind gute Orientierungspunkte für die Wegbeschreibung im Radführer ("an der Haltestelle Bielstein rechts").
Ansonsten bin ich den hölzernen Wanderschildern gefolgt. Fahrradschilder gab es nicht.

Der Harz, das sind ja im Prinzip so Halbkugel-Berge mit viel Wald drauf, die in der Ferne aus irgendeinem Grund blau und durchsichtig aussehen. Doch je höher sich der Weg schraubte, desto öfter hatte der Wald Lücken. Der Borkenkäfer hat wieder zugeschlagen.

Auf diesen leeren Flächen liegen richtig dicke Granitbrocken herum. Also, eigentlich liegen die überall im Harz herum, aber auf den leeren Flächen fallen die mehr auf. Besonders, wenn sie auch noch zu erstaunlichen Stapeln aufgetürmt wurden.
Einer dieser Riesensteine am Wegesrand ist dem Forstmeister Ernst Freiherr von Eschwege gewidmet, der sich für diese Landschaft engagiert hat. Einfach eine Tafel an den Stein tackern, so spart man sich die Statue.
In der Ferne ertönt ein Heulen. Schuhuuu! Was mag das sein?

Es ist die Harzer Schmalspurbahn. Das sind hochpreisige, berühmte Züge, die mit Dampf und Diesel fahren. Im Kalten Krieg waren die Schienen logischerweise geteilt, heute bilden sie das größte Schmalspurbahn-Netz Deutschlands.
Nach über zehn Kilometern Wald bin ich in Drei Annen Hohne rausgekommen. Dabei handelt es sich um eine Handvoll Häuser, einen Bahnhof und einen Imbiss.
Drei Annen Hohne hat also vor allem deshalb einen eigenständigen Namen, damit überhaupt mal wieder irgendein Name auf der Karte steht. Aber wieso ausgerechnet so ein seltsamer Name? Der Adlige Christian Friedrich zu Stolberg-Wernigerode hat sich Anteile an einem Bergwerk gekauft, das in der Nähe lag. Seine Mutter, Tochter und Nichte hießen alle Anna, um die Ecke lagen die Hohneklippen, und aus irgendeinem Grund ist daraus Drei Annen Hohne geworden. Das Bergwerk ging übrigens pleite. Der Christian hätte lieber Anteile an dem Imbiss am Bahnübergang erwerben sollen, der ausschließliche Erbsensuppe, seltsame Wurst und Bier serviert. Vielleicht hätten ihm schon damals Radler und Motorradfahrer die Tür eingerannt.

Dann geht der Waldweg weiter. An dieser Bank mit rustikalem Fußhocker habe ich eine kleine Wanderung eingeschoben.

Dabei hatte ich zwei nasse Hindernisse zu überwinden.

Ich wollte mir nämlich den Königshütter Wasserfall ansehen. Da fließt zwar nur ein schmales Bächlein, aber es fällt von einer zauberhaften grünen Klippe, und zwar ziemlich tief. Der künstliche Wasserfall entstand als Nebenprodukt von Bergbauarbeiten.

Am Kreisverkehr von Elend steht Deutschlands kleinste Holzkirche nebst einigen schwedischen Ferienhäusern. Elend ist immerhin ein richtiges Dorf, nicht nur eine Ansammlung von fünf Häusern. Allerdings war es viel ausgestorbener als Drei Annen Hohen, zu essen gab es da auch nix. Dafür ist Elend der Ausgangspunkt, wenn man vom Iron Curtain Trail aus zum Wurmberg oder Brocken will.

Nun ist die Zeit der wilden Waldwege zu Ende. Ich bin auf einer kleinen Straße gefahren, die von kleinen gelben Blümchen und zahllosen Bahnübergängen gesäumt wird. Die Schmalspurbahn kreuzt immer wieder den Weg.

Diese Katze ist in Sorge. Nicht nur, weil sich Gewitterwolken sammeln und weil sich fremde Leute ihrem Restaurant nähern, sondern auch, weil besagtes Restaurant im Dorf namens Sorge liegt. Ich habe mich von ihrem grimmigen Blick nicht abschrecken lassen und mir im Sonnenhof den Bauch vollgeschlagen.

Elend, Sorge, später kommt auch noch Zorge… wieso haben die Orte hier so deprimierende Namen, wo sie doch so schön gelegen sind und auch ganz schön aussehen? Nun, der Name Sorge kommt vom altdeutschen Wort zarge für Grenze. Dieses Wort war längst ausgestorben, als besagte Grenze begann, den Leuten so richtig Sorgen zu machen.

Am Bahnhof steht ein kleines Grenzmuseum. Daneben sehen Sie einen der Vollpfosten aus der DDR.

Das Museum besteht aus einem Raum. Darin erklärte der Museumswärter gerade zwei anderen Besuchern die Ausstellungsstücke. Nun, die allgemeinen Fakten zu den Grenzanlagen hatte ich inzwischen schon zu Genüge gehört, aber jedes Museum bringt auch ein paar neue Informationen (Wussten Sie, dass Igel und Mäuse durch Löcher im Beton unter den Zäunen durchschlüpfen konnten? Nicht aus Tierliebe, sondern damit sie die Selbstschussanlagen nicht auslösten.) und besondere Ereignisse aus der Region. (An der hiesigen Grenze hinterließ ein genervter junger Grenzsoldat auf seinem abgerissenen Kragen eine verbotene Nachricht an seinen Nachfolger in einer Thermoskanne: Viel Glück und er solle bloß nicht länger beim Militär bleiben als nötig. Oder: Weil der Boden am Grenzzaun mit Chemikalien behandelt wurde, wächst dort oft auch heute nichts mehr. Dennoch wird die Harzgrenze schwerer zu erkennen, denn durch den Borkenkäfer verschwinden auch die anderen Bäume.)

Eigentlich besteht das Museum nicht nur aus diesem Raum. Es hat auch noch einen Outdoor-Teil. Um den zu erreichen, musste ich auf dem Betonplattenweg fahren. Zuerst durchquerte ich das Tor im Signalzaun...

...und es folgten der Streckmetallzaun, ein Beobachtungsturm und jede Menge Holz. Der Turm wurde kürzlich frisch hergerichtet, man soll ihn demnächst sogar besteigen können. Damit unterscheidet er sich von all den anderen Türmen entlang der Strecke.

Ein Museum, originale Grenzanlagen, ein Kolonnenweg... was fehlt noch? Richtig, ein künstlerisches Mahnmal.
Man nehme vier alte Betonpfähle, mache den Zaun ab, lege einen Haufen totes Holz im Kreis drumherum und pflanze Strächer, die den Ring zuwuchern. Fertig ist der Ring der Erinnerung. Die Natur holt sich alles zurück.

Nun ist das Freilichtmuseum zu Ende, doch der Kolonnenweg geht immer weiter - und bildet sich offenbar ein, er sei eine Achterbahn. Aaargh… wie tief geht es hier bitte runter?
Ich habe versucht, den Löchern auszuweichen, um nicht komplett durchgeschüttelt zu werden. Aber selbst wenn es mir gelang, ganz gerade in einer Linie zu fahren, nützte das nichts - die Betonplatten waren leicht versetzt.

Nach einigem Auf und Ab führte mich der Weg dann nach Niedersachsen - zum ersten Mal seit heute Morgen.
Auf der anderen Seite liegt ein niedersächsisches Dorf namens Hohegeiß. Der Name lautete früher hogeyz und dann Hohegeist lautete und hat demnach nichts mit einer Geiß, also Ziege, zu tun. Trotzdem bewacht ein steinerner Geißbock die Kreuzung. Auf seinem Sockel steht geschrieben:
Ich stehe hier zum Lob und Preis
für mein schönes Hohegeiß.
Sofort erklingt in meinem Gehirn die Melodie von Gangsters Paradise. Während der restlichen Tour spielt es den Refrain immer und immer wieder mit dem Hohegeiß-Vers ab. Damit es nicht zu langweilig wird, spinnt es den Text noch ein bisschen weiter.
Ich stehe hier zum Lob und Preis
für mein schönes Hohegeiß.
Alter, was ein geiler Scheiß:
Dieser Geißbock steht in Hohegeiß.
Sie zahlten einen hohen Preis
für die Grenze hier in Hohegeiß.
Doch nun steh ich hier zum Lob und Preis
für mein schönes Hohegeiß.

Dann muss man nur noch die steile Straße bergab sausen und ist aus dem Harz raus. Wegen des stürmischen Wetters war niemand unterwegs, ich hatte die Berstraßen für mich.
Ich habe mich entschieden, noch einen Umweg einzuschieben. Deshalb habe ich eine andere Straße gewählt. Die führte mich zurück in den Osten - also wieder nach Sachsen-Anhalt, oder?

Falsch, nach Thüringen! Ein paar Meter im Wald treffen sich die drei Harz-Bundesländer an diesem Dreiländerstein. Der wurde seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr aktualisiert. Deshalb stehen da noch die Kürzel für die früheren Herzogtümer drauf.

Joa, und dann hatte ich die glorreiche Idee, auf einem Waldweg rüber zur Straße mit der offiziellen Route zu wechseln. Ich erwischte leider den falschen Waldweg, der sich eine ganze Weile um die Berge herumschlängelte. Einmal überquerte ich erneut ein Stück Kolonnenweg und wusste, dass ich wieder an der Grenze war - aber wo?
Endlich führte mich der Weg in ein Dorf namens... Sülzhayn? Verdammt, wo bin ich?

Naja, auf jeden Fall führte dort ein Weg aus dem Harz hinaus. Gemeinsam mit dem Getreide wogte ich dort im Wind.

Nach einer gesperrten Straße und einer Umleitung bin ich in Ellrich endlich auf die offizielle Route gestoßen. Ellrich ist nicht so schön wie andere Harzstädte, besonders düster ist es aber hinter dem Bahnhof. Dort befand sich Juliushütte, ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald.

Die unterernährten Häftlinge hatten die anstrengende Aufgabe, aus diesen Felswänden Gips abzubauen.

Weil das Lager genau auf dem Grünen Band lag, ist es während des Kalten Krieges völlig verfallen. Hier entstand keine umfangreiche Gedenkstätte wie in Buchenwald, Sachsenhausen, Bergen-Behlsen und all den anderen schrecklichen Orten. Die Natur hat sich bemüht, die Erinnerungen an diesen Ort zu tilgen. Nur noch die Grundmauern sind übrig. Die Tafeln daneben verraten, dass zum Beispiel diese Mauern der Küche gehörten.
Als ich in den Wald eingetaucht bin, wurde es schlagartig dunkel. Donner grollte, Regen peitschte der Weg wurde zu einem schmalen Trampelpfad, und immer neue Überreste der grauenhaften Anlage schälten sich aus der Finsternis. Das nenne ich gruselig.

Der Weg führte zwischen den Teichen von Walkenried hindurch. Er wurde immer mieser und hatte kleine Brücken, die vermutlich nicht für Radfahrer gedacht waren. Ich wünschte, ich wäre an den Resten des Lagers umgekehrt und das letzte Stück auf der Straße gefahren. Die offizielle Route führt auf Pfaden durch diesen Wald, aber bestimmt nicht auf diesem Pfad. Ich war schon wieder falsch.

Aus irgendeinem Grund kam ich dann bei den Bahngleisen heraus. Zum Glück verlief daneben ein besserer Pfad, dem ich dann einfach gefolgt bin. Dabei habe ich auch einen Tunnel durchquert, was vermutlich nicht so richtig erlaubt war. Obwohl, ein Verbotsschilf war da auch nicht. Außerdem gewährte ich einer Horde Wildschweine Vorfahrt.

Als ich am Bahnhof von Walkenried erreichte, war ich weitgehend durchnässt und hatte an dem Tag keine Zeit mehr, die eindrucksvollen Ruinen des Zisterzienserklosters zu bewundern.