Sonntag, 1. Dezember 2019

Von Marienborn nach Stapelburg

Die Vorharz-Grenze

Streckenlänge:
78,8 km (+ 15,5 km ab Helmstedt + 7 km nach Bad Harzburg)
Grenzquerungen: 10
Bundesländer: Niedersachsen/Sachsen-Anhalt
Seite: etwa gleich viel im Osten und Westen
Erkenntnis: Das Ödland macht keinen Unterschied zwischen Ost und West.

An der heiligen Quelle von Marienborn trennen sich Allerradweg und Iron Curtain Trail.

Südlich von Marienborn liegt erstmal ein freundlicher grüner Wald. An dieser Stel(l)e rastete schon 1841 der preußische König Wilhelm IV. (aus). Er war unterwegs zur Einweihung des Mausoleums für sein verstorbenes Vorbild, Generalfeldmarschall Gneisenau.

Besagtes Mausoleum wurde in Sommereschenburg errichtet. Dieses Dorf bietet tatsächlich Eschen und eine eindrucksvolle Burg. Und sommerlich war es auch.

Die Straße ins nächste Dorf hat keinen Radweg. Der Asphaltstreifen links sieht zwar so aus, ist aber ausdrücklich nur für Fußgänger. Macht nichts, auf der Straße ist eh nicht viel Verkehr.
Auf einmal führt sie stark bergab, der Wald verschwindet und die ganze heutige Strecke breitet sich aus. Am Horizont ragt der Harz in die Höhe. Der ist noch ganz schön weit weg. Da will ich heute hin? Uiuiui.

Zwei Dinge passierten ständig auf dieser Etappe. Erstens: Die Karte verspricht einen Asphaltweg, der sich als etwas Fürchterliches herausstellt. In das folgende Dorf führt zum Beispiel diese Pflasterstraße aus dem Mittelalter.

Zweitens: Ich wechsle ständig die Grenze. Nach der Pflasterstraße bin ich kurz auf einer niedersächsischen Straße gelandet, hinter dem nächsten Dorf geht es zurück nach Sachsen-Anhalt. An jedem Übergang steht eines der üblichen braunen Schilder mit der Aufschrift Hier waren Deutschland und Europa bis zum soundsovielten 1989 um soundsoviel Uhr geteilt.

Der nächste Grenzübergang liegt in Hötensleben. Hier sind deutlich mehr Spuren der Vergangenheit zu entdecken als ein braunes Schild. Ein großes, rund um die Uhr zugängliches Flächendenkmal sollte es hier geben, auf das ich schon sehr gespannt war.
Zuerst sah ich zwei olle Zäune und dachte mir: Das wars schon? Nein, das war es nicht, es folgen noch viel mehr. Nirgendwo sonst erhält man einen so guten Eindruck, wie die Grenze auf einer längeren Strecke tatsächlich aussah - nämlich ziemlich kompliziert. Hier mal ein Überblick.

Sperrzone (5 km)

Die Leute, die nahe der Grenze lebten, galten als besonders fluchtgefährdet. Kleine Dörfer wurden deshalb komplett abgebaut, in den größeren wie z. B. Hötensleben wurden nur politisch unzuverlässige Personen zwangsausgesiedelt. (Indiz: Der Sohn arbeitet im Westen.) An den Straßen standen Kontrollstellen. Anwohner hatten einen Vermerk im Ausweis, Besucher brauchten ein Visum. Wegen dieser Unannehmlichkeiten erhielten die Bewohner Sperrzonengeld.

Schutzstreifen (500 m) mit
  • Signalzaun ab 1983. Wer da rüberkletterte und den leichten Strom unterbrach, löste einen Alarm aus - anfangs einen lauten, später einen stillen. Weil die Bürger keine Ahnung hatten, wie die Grenze aufgebaut war (Woher auch?), dachten sie, sie seien schon drüben. Bis sie an der richtigen Mauer waren, hatte die alarmierte Patrouille sie geschnappt.
  • bellenden Hunden und Hundezaun bei schwer kontrollierbarem Gelände
  • Wachtürmen. Die berühmten grauen Klötze sahen anfangs so merkwürdig aus wie der hier, nur etwas höher, nämlich 11 Meter. Diese instabilen Türme hatten keine Heizung, kein Klo und keinen wirklichen Schutz vor Sturm und Gewitter. Später wurden deshalb meist diese dickeren rechteckigen Türme gebaut, die an der Grenze (und auch in diesem Blog) öfter mal zu sehen sind.
 
  • Kolonnenweg aus Betonplatten für die Autos der Grenztruppen
Kontrollstreifen/"Todesstreifen" (10 m) mit
  • gepflügter Erde, damit alle Fußspuren zu sehen sind
  • KFZ-Sperrgraben oder Panzersperren (in Hötensleben letzteres), damit niemand im Auto volle Kanne auf den Zaun zurasen und ihn so zerstören kann
  • Streckmetallzaun, also eine in die Länge gezogenen Metallplatte mit kleinen, rautenförmigen Löchern. Wenn man da die Finger reinkriegt, werden sie beim Klettern fies eingequetscht. Nur mit einer Leiter oder Kletterausrüstung kommt man rüber. In der Nähe von Ortschaften stand stattdessen eine Mauer wie in Berlin mit einer runden Wurst obendrauf, an der keine Hand und kein Kletterhaken Halt findet. In Hötensleben sind sowohl Mauer als auch Streckmetallzaun zu sehen.

Geländestreifen (bis zu 400 m)

Hatte man diesen Zaun überwunden, war man immer noch auf DDR-Gebiet und konnte erschossen werden. Auch die bunten Pfeiler mit der DDR-Flagge standen nicht genau auf der Grenze. Die wahre Grenzlinie markierten unauffällige Grenzsteine (bei Hötensleben der Bach hinter dem braunen Schild). In diesem Gebiet durften nur ganz besonders vertrauenswürdige Grenzsoldaten patrouillieren, denn selbst der eigenen Armee konnte man nicht vertrauen. Für Westdeutsche war das Gebiet auch nicht ganz ungefährlich. Sie dachten, die Mauer sei die Grenze, und betraten versehentlich DDR-Gebiet, womit sie sich in der DDR strafbar machten. Der Bundesgrenzschutz stellte deshalb Warnschilder vor den Grenzsteinen auf.


Hinter dem Flächendenkmal bin ich auf der Straße nach Niedersachsen zurückgekehrt. Sie führt an einem gewaltigen braunen Krater vorbei, wo Braunkohle gefördert wird. Am Rand dieses Lochs stehen ein paar Fördermaschinen und Findlinge.
In der Erde befinden sich Salzstöcke. Die haben dafür gesorgt, dass sich die Erde dazwischen immer weiter absenkt und sich immer neue Erdschichten ablagern. Deswegen wurden hier versteinerte Palmen und Seegraswiesen aus früheren Warmzeiten gefunden.

In der Altsteinzeit jagten hier einige Exemplare des Homo Erectus Pferde. 1994 wurden beim Braunkohletagebau die Pferdeskelette und acht Speere aus der Altsteinzeit gefunden. Das sind die ältesten erhaltenen Jagdwaffen der Welt. Bisher war nicht bekannt, dass der Homo Erectus so gute Waffen herstellen konnte, heutige Wurfspeere sind auch nicht viel besser.
Deshalb hat die Stadt Schöningen ein spiegelndes Steinzeitmuseum namens Paläon errichtet. Rundherum stehen ein Spielplatz, ein Platz zum Speerwerfen und so was. Das teure Museum mit seiner Architektur, die nicht wirklich zum Thema Steinzeit passt, ist bei den Schöningern sehr umstritten.

Die stillen Backsteindörfer auf der Strecke sehen alle ungefähr so aus.

Zurück in Sachsen-Anhalt folgt eine unglaublich blöde, öde Strecke. Diese Landschaft trägt den grammatisch fragwürdigen Namen Großes Bruch. Sie ist grün-braun, flach und verdammt langweilig, der Harz liegt noch in weiter Ferne. Ich komme eigentlich aus einer flachen Gegend, aber das hier ist weitaus flacher als alles, was ich von dort kenne. Die Sonne brannte in meine Haut, mein Blick fand nirgendwo einen Halt und ich konnte die Hoffnungslosigkeit der abgehängten Dorfbewohner dieses Ödlands beinahe körperlich spüren. Und das nach nur fünf Kilometern.
Am sogenannten Hessendamm, der für den Mauerbau abgerissen wurde, führt ein endloser Betonplattenweg schnurgeradeaus nach Westen. Ich habe nichts gegen Betonplatten, wenn sie so aussehen wie auf diesem Foto. Leider war das häufig nicht der Fall. Der Weg sah über viele Kilometer aus, als sei dort im Kalten Krieg ein Bataillon Panzer drübergerollt, von denen die Hälfe explodiert ist. So kam ich manchmal quälend langsam voran. Diese schiefen, zersplitterten Betonplatten haben meinen Fahrradschlauch schließlich zum Platzen gebracht.

Zwischendurch bin ich noch einmal nach Niedersachsen gewechselt, wo der Weg etwas besser war. Auch hier stehen Reste des Streckmetallzauns am Wegesrand, außerdem ein Grenzturm. In einem Glaskasten hängen Zeitungsausschnitte, die berichten, wie der Ministerpräsident bei der Grenzöffnung auf dieser Straße tanzte.

Hier wurden die ollen Betonplatten mal abgetragen. Sehr lobenswert!

In Hornberg endet dieser Weg. Endlich geht es wieder nach Süden zum Harz!
Hornberg besteht aus roten Fachwerkbalken, auf denen stets ein Bibelvers steht. Dieser Ort ähnelt bereits einer Harzstadt.

Hinter Hornberg musste ich eine grüngelbe Hügelkette überwinden, die ich die ganze Zeit schon nebenan gesehen hatte. Dabei bin ich ein wenig vom rechten Weg abgekommen. Auf der Hügelkette beginnt noch einmal Sachsen-Anhalt.

Aber nur ganz kurz, dann folgt wieder Niedersachsen. Und wieder sind Überreste der Mauer erhalten geblieben. Dieses Denkmal geht auf die Initiative einiger Schüler zurück.

Schließlich gelange ich auf eine Straße, die schnurgeradeaus auf den Harz zuführt. In der Nähe stehen mehrere Mahnmäler, die an den Eisernen Vorhang erinnern. Eines davon nannte der Künstler Schrotthaufen der Weltgeschichte. Es besteht aus zehn Stahlplatten, deren Entfernung immer größer wird.
Hier erreiche ich ein letztes Mal Sachsen-Anhalt.

In der Nähe liegt der älteste erhaltene Bahnhof Deutschlands. Der Bahnhof Vienenburg ist schneeweiß und sieht gar nicht mal so alt aus.

Und da ist ja das erste Stück Wald, das aus dem Harz herausragt! Anfangs ist dieser Wald flach, aber irgendwann wird er hügelig. Da drin verläuft auch die Grenze auf dem Fluss Ecker (der über die Oker in der Aller landet). Der Radweg führt am Waldrand hinüber nach Niedersachsen, wo ich dann auch geblieben bin. Das war definitiv genug Strecke für heute, also habe ich den Wald-Ausläufer durchquert und bin in Bad Harzburg mit dem Zug weggefahren.
Bei Stapelburg trifft die Grenze dann auf den Harz. Dieser Ort ist bekannt für den Jungborn, die erste Naturheilstätte Deutschlands.

Diese Betonbrücke ist das letzte, was Radfahrer für lange Zeit von der Grenze sehen. An diesem unauffälligen Grenzübergang von Niedersachsen nach Sachsen-Anhalt wechseln der Europa-Radweg R1, der Radweg Deutsche Einheit von Bonn nach Berlin und der Harzrundweg in den ehemaligen Ostblock.
Die Ecker verschwindet mitsamt der Grenze tief in den Bergen. Dieser Teil des Grünen Bands ist sehr interessant und möglicherweise der landschaftlich schönste Abschnitt, aber auch dermaßen unwegsam, dass die Radroute komplett woanders langführt.
Wer ihn sehen will, muss wandern.