Samstag, 20. Juni 2020

Der Eckerstausee

Unterdessen wagen sich wieder einige Waldwege in die Schlucht der Ecker. Tief eingeschnitten zwischen grauen Felsen plätschert sie aus dem Harz herab. Hier lässt es sich ganz wunderbar wandern. Die Ecker ist ein wunderschöner, aber total versteckter Fluss. Die olle Betonbrücke von Stapelburg verrät nicht, was dieser Bergbach alles zu bieten hat.
Auf manchen Wegen könnte man sogar Fahrrad fahren, und manche Mountainbiker machen das auch. Aber die breiten Forstwege verwandelt sich auch gern mal in schmale Pfade, sodass es keine durchgehende Strecke für den Iron Curtain Trail gibt.

Nach vielen Kilometern tauchen erstmals wieder menschengemachte Gebäude auf. Es werden für eine ganze Weile die letzten sein.

Sie gehören zur möglicherweise hässlichsten Staumauer im Harz. Hier gibts kein prächtiges Mauerwerk wie an der Eder oder einen großen grünen Graswall wie an der Söse. Dieses Stauwehr besteht aus grobem, scheußlichen Beton. Dieses Monster bauten die preußischen Provinzen Hannover und Sachsen ab 1940. Ein Drittel der Staumauer gehörte später DDR, zwei Drittel der BRD. Architektonisch sieht es allerdings aus, als sei die gesamte Staumauer sozialistisch gewesen.

Da ist es kein Wunder, dass die Regierung der DDR noch mehr von der Mauer haben wollte, wo sie doch Mauern generell mochte und der Baustil auch noch so gut zum Land passte. Mitten auf der Mauer steht ein kleines weißes Technikhäuschen.


Die DDR beanspruchte zunächst auch noch die Hälfte dieses Häuschens.

Die BRD nutzte den Stausee zur Trinkwassergewinnung, konnte die Mauer und die Fernwasserleitung auf der Ostseite aber nicht reparieren. Die DDR mauerte mit Zigelsteinen eine kleine, provisorisch aussehende Mauer auf die Mauer. In den Gängen im Inneren der Staumauer zeigten weiße Striche die Grenze an. Zum Glück ging in all den Jahren auf der Ostseite nichts Wichtiges kaputt, sonst hätte das Trinkwasser in Braunschweig knapp werden können.
Erst 1978, später als bei den anderen Grenzproblemen, gab es hier eine Einigung. Die verzichtete DDR auf die Hälfte des Häuschens, die Ostseite durfte aber immer noch nicht betreten werden, trotzdem konnte die Talsperre irgendwie sinnvoll bewirtschaftet werden.

Jetzt wirds mal wieder widersprüchlich: Auf die hässlichste Staumauer Deutschlands (oder zumindest im Harz) folgt der absolut und vollkommen wunderschönste Stausee Deutschlands (oder zumindest im Harz). Wow!
Als Gott diese Landschaft schuf, fragte er die Menschen: An welchen Stellen wollt ihr den Brocken sehen? Die Menschen antworteten: Ja. Und so geschah es. Der höchste Berg ist überall zu sehen.

Um diesen Stausee führt ein grandioser Wanderweg, der seltsamerweise Pionierweg heißt, obwohl die Jungpioniere der DDR hier sicherlich nicht herumlaufen durften. Wer am Radau-Wasserfall startet (wo der nächste Parkplatz oder die nächste Bushaltestelle lieg) und die volle Runde inklusive Scharfensteinklippen läuft, hat 20 Kilometer vor sich. Eine ganz schöner Brocken, aber es lohnt sich richtig. Der Pfad am steilen Waldufer im Westen ist schon ganz großartig.

Aber am Ostufer zeigt der See seine ganze Pracht, denn hier wächst etwas ganz Besonderes: Heidekraut in großen Mengen. Dieser Heidestausee hat mehr zu bieten als viele der kleineren, vielbeworbenen Heideflächen in der Lüneburger Heide. Der ganze steile Abhang bis zum Wasser ist bewachsen und leuchtet im Sommer bestimmt phantastisch violett. Wow!
Bis ganz runter zum See kann und darf man nirgendwo gehen. Dort stehen Warnschilder, die auf ein Trinkwasserschutzgebiet hinweisen.

Die innerdeutsche Grenze verlief durch den Stausee, aber nicht einfach in der Mitte, sondern geschlängelt - so wie der Fluss früher vor dem Bau der Staumauer verlief.

Die Grenzsperranlagen befanden sich natürlich noch ein ganzes Stück weiter am Ostufer. Der Kolonnenweg ist noch erhalten.

Dahinter erheben sich die Scharfensteinklippen. Auf diesen Felsen befindet sich noch mehr Heidekraut und eine schöne Aussicht über den See, die ich leider nicht gesehen habe, weil die Zeit nicht mehr für einen Ausflug auf die Klippen gereicht hat.
Das Gestein wird Eckergneis genannt und hat im Laufe von Jahrmillionen Abenteuer erlebt, neben denen unsere Wanderung wie ein Kindergartenspaziergang wirkt: Erst lag das Zeug auf dem Kontinent Baltica, dann im Meer, dann 20 Kilometer unter der Erde und schmolz bei 1200 Grad zusammen. Das reicht locker, um aus Ton und Sandstein so stabile graue Blöcke zu formen.

Weiter verzieht sich der Pionierweg tiefer in den Wald und der Stausee ist nicht mehr so oft zu sehen. Und dann ist er zu Ende. In einer rauschenden, grüngrauen Landschaft mit dicken Felsbrocken wird aus dem See wieder ein Fluss.

Und nun verschwindet die Ecker noch tiefer im Wald, in einer Schlucht, die noch enger und wilder ist als die vor dem Stausee. Sie sprudelt und strudelt und springt über große und kleine Steine wie ein echter Bergbach. Hier kann die Ecker sogar mit manchen Schluchten der Alpen mithalten, denn dort geht es auch nicht viel wilder zu. Der Wanderweg führt anfangs hoch über den Baumwipfeln am Rand der Berge entlang, sodass das rauschende Wasser kaum zu erkennen ist. Aber dann geht es immer näher an den Fluss, über Wurzelpfade und Holzplanken immer tiefer in die verborgene Schlucht, die das vielleicht größte Geheimnis des Eisernen Vorhangs birgt.

Es ist eine total absurde Information, die ich im Buch Halt! Grabenmitte Grenze gelesen habe. Kaum jemand kennt sie, nicht einmal das Personal in den Grenzmuseen hat sie mir geglaubt.
Und so lautet sie: Der Eiserne Vorhang hatte ein Loch. Der Grenzzaun verschwand im Wald, sodass es aussah, als würde er ganz normal weiterführen. Niemand, auch nicht die Einheimischen (die ja auch nicht dicht dran durften), konnte sich etwas Anderes vorstellen. Doch sobald der Zaun nicht mehr zu sehen war, hörte er für mehrere Kilometer zwischen dem Brocken und Scharfensteinklippen auf. Der Untergrund bestand aus Moor und Felsbrocken und war denkbar schlecht geeignet, um irgendwas Stabiles darauf zu bauen. Deshalb verzichtete die DDR auf diesen Abschnitt. Sie konnte es sich leisten.
Zwar denkt man sich erstmal: Schade, Mensch, da hätten doch alle DDR-Bürger ganz leicht abhauen können, wenn sie es gewusst hätten. Dem war leider nicht so. Das Gelände war so steil und unwegsam, dass ein Wanderer pro Stunde nur einen halben Kilometer schaffen konnte. 5 Kilometer Sperrgebiet plus 500 Meter Schutzstreifen plus 10 Meter Kontrollstreifen plus 400 Meter Geländestreifen, das macht insgesamt eine Wanderung von etwa 12 Stunden - noch langsamer wird es, wenn man sich versteckt. Außerdem hätten sich die meisten Leute verlaufen, da es keine Karten zu kaufen gab und Google Maps noch nicht existierte. Wahrscheinlich wäre man da früher oder später einer Patrouille in die Arme gelaufen.

Doch heute hat der Nationalpark Harz einen Teil dieses Gebiets erschlossen und ausgeschildert, nicht ohne die Besucher zu ermahnen, den Weg nicht zu verlassen. Der Pionierweg folgt der Ecker bis zur Eckerquerung. Das ist eine Furt mit den größten Steinen, die ich je gesehen habe. Barrierefrei ist der Weg also nicht gerade, aber für gesunde Menschen ist es kein Problem, die Ecker mit großen Schritten über diese dicken Brocken zu überqueren. Am anderen Ufer führt der Weg zurück zum Stausee, dort allerdings weit vom Fluss entfernt.

Nun ist die Ecker selbst die mutigsten Wanderer losgeworden und kann durch eine echte Wildnis fließen, ohne jede Zivilisation. Es ist schön zu wissen, dass es so etwas in Deutschland noch gibt.
Die innerdeutsche Grenze folgte der Ecker bis zu einem der berühmtesten Berge Deutschlands.

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